Mappe für Ensemble (2008-10, 2017)
1.1.2.1-2.1.1.1-Schl(3).Hf.Klav-2.2.2.1
(22 min)
Verlag
Boosey & Hawkes Berlin
Uraufführung
Ensemble Intercontemporain, Susanna Mälkki, Paris 5. Oktober 2010
Texte
Programmhefttext (2017)
Die erste Idee zu dem Ensemblestück Mappe war nicht klanglicher Natur, sondern verbunden mit dem Wunsch nach einer bestimmten Arbeitsweise: Etwas zu schreiben, längere Zeit aufzubewahren, danach wieder neu zu lesen, zu analysieren und zu entdecken, um dann mit der gewonnenen Distanz weiterzuschreiben, zu korrigieren, zu entwickeln, zu kontrastieren. Diesen Schritt habe ich bereits in der ersten Fassung aus den Jahren 2008-2010 mehrfach ausgeführt.
Die Gedanken wurden während des Arbeitsprozesses wie in einer Mappe gesammelt. Neues Material wirkte sich auf das alte in der Mappe aus, zwischenzeitlich neu gemachte Erfahrungen ergänzten die alten, manches wurde emphatisch bestätigt und überhöht, anderes kritisch hinterfragt − ein kommunikativer Prozess begann.
Pate für die Idee stand eine poetische Vorstellung in Adalbert Stifters Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters: Drei Jahre lang werden dort als quasi erzieherische, therapeutische Maßnahme tagebuchähnliche Eintragungen aufbewahrt, um später, aus zeitlicher Distanz, eine Annäherung an die eigene (zerrissene) Persönlichkeit zu ermöglichen. Geht es in Stifters Erzählung um Zuspitzung und Lösungsmöglichkeiten des Konflikts zwischen Kultur und Natur, suche ich über die Arbeitsweise die Auseinandersetzung des Eigenen mit dem Fremden im musikalischen Material.
Von Stifters Erzählung gibt es vier verschiedene Fassungen, welche von 1841/42, über die Buchfassung von 1847, bis hin zu den letzten, unvollendeten Versionen aus den Jahren 1864 und 1867 reichen. Auch in dieser Hinsicht mag man eine Parallele sehen, wenn ich nun 2017 eine neue, endgültige Fassung meines Stückes Mappe erarbeitet habe, die besonders im 1. und 2. Satz stellenweise einer Neukomposition gleicht. Den tief verborgenen, musikalischen Tendenzen auf der Spur, konnte ich mich mit der nötigen Distanz von manchen (schlechten) Gewohnheiten trennen. Das Ergebnis erscheint (mir) konsistent und aufwühlend-brüchig gleichermaßen.
Die Gesamtform von 2008 bleibt bestehen: Die etwa 6-minütigen Ecksätze (1 und 3) umrahmen einen 2. Satz, welcher aus 5 kleinen, beinahe unabhängigen, kurzen Teilen besteht (2a-e). Hier kommt man wohl dem zunächst sperrig und abstrakt anmutenden Titel Mappe am nähesten: Wie Notizen in einer Mappe verhalten sich die Teile des 2. Satzes zu den umrahmenden Ecksätzen.
Dass Form und Inhalt verknüpft sind, dass es (fast) unmöglich ist, die beiden getrennt zu denken, dass sich Außen und Innen beeinflussen, bedingen, miteinander ringen, nach Definition verlangen und sich dieser im selben Moment widersetzen, dies alles mögen Erfahrungen beim Hören von Mappe sein. Doch bleibt das Wesentliche die Musik, die Worte nur Analyse, Analogie oder Metapher, ergänzend aber nicht notwendig.